April 16, 2006

Überfluss


Es ist ganz sicher eine der großen Tragödien unserer Zeit, dass wir Menschen in Lebenssituationen bringen, in denen sie sich überflüssig vorkommen. Überflüssig, weil sie nicht gebraucht werden. Überflüssig, weil ihre Fähigkeiten nicht nachgefragt werden. Überflüssig, weil das, womit sie ihren Alltag verbringen ihnen sinnlos vorkommt.

Bei dem Versuch, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen fällt auf, dass der Begriff „überflüssig“ in seinem Ursprung zunächst einmal mit dem Begriff „Überfluss“ zu tun. Gibt es also einen Zusammenhang zwischen dem Überfluss und dem von uns beklagten Zustand und wenn ja, welchen? Kann es etwas Schlechtes sein, wenn etwas im Überfluss vorhanden ist? Ist nicht unsere ganze Lebens- und Wirtschaftsweise Schlussendlich darauf ausgerichtet Überfluss zu erzeugen und im Überfluss zu leben? Streben wir nicht kollektiv nach Überfluss? Nach mehr? Mehr Autos, mehr Häuser, mehr Kleider, mehr Urlaub und mehr Geld? Und leben wir nicht in einer Kultur, die den Begriff „genug“ weder kennt noch begrüßt?

Was also bedeutet es, wenn so viele Menschen sich in all dem Überfluss überflüssig vorkommen?

Überflüssig fühlen sich z.B. viele Jugendliche in der Arbeitswelt. Sie werden heute nicht gebraucht, nicht ausgebildet oder nicht eingestellt. Denn jugendliche Arbeitslose sind im Überfluss vorhanden sind. Arbeits- und Ausbildungsplätze hingegen nicht.
Überflüssig sind auch viele ältere Arbeitnehmer. Sie werden nicht mehr gebraucht und deshalb entlassen oder wie es auch so schön heißt frei gesetzt. Denn es gibt genügend jüngere Arbeitssuchende. Die sind im Überfluss vorhanden. Arbeitsplätze aber nicht.
Überflüssig sind auch sehr viele alte Menschen. Sie werden weder von der Arbeitsweilt noch von ihrer Familie oder der Mitwelt gebraucht. Auch sie sind im Überfluss vorhanden und zugleich nicht mehr in der Lage die Leistungen zu erbringen, die von anderen benötigt werden.

Überflüssig sind auch viele Kinder. Sie leisten nichts. Weder für die Gesellschaft noch für ihre Familien. Richtigt gebraucht werden sie erst, wenn sie alt und gebildet genug sind, um die Leistungen zu erbringen, die gebraucht werden

Überflüssig sind auch viele Unternehmen, weil das was sie leisten, dass bereits im Überfluss vorhanden ist. Überflussig sind vor allem auch viele Waren, die niemand bestellt hat oder braucht.
Auch Geld gibt es im Überfluss aber nicht immer dort, wo es gebraucht wird. Geld liegt im Überfluss als Gespartes vor und als Anlagekapital bei den Banken. Es fließt 24 Stunden am Tag rund um den Globus und sucht nach den rentabelsten Anlagemöglichkeiten. Wie viele Fondsmanager wachen jeden Morgen mit Sorgenfalten auf der Stirn auf und mit ungeweinten Tränen, weil sie nicht mehr wissen wohin mit dem vielen Geld, das ihnen anvertraut wurde und das sie aber leider nur denen geben dürfen, die aus dem vielen Geld noch viel mehr Geld machen.

Wir sehen also: Unsere Welt ist geprägt von einem nebeneinander an zu viel und zu wenig. Zu viel Menschen, zuviel „Ware Arbeitskraft“, zu viel Kapital, zu viele Güter, zu viel Produktionskapazitäten. Gleichzeitig gibt es in dieser Welt auch von vielem zu wenig: zu wenig bezahlte Arbeitsplätze, zu wenig sauberes Wasser, zu wenig gute Nahrung, zu wenig Zuwendung für Kinder und alte Menschen, zu wenig Glaube, zu wenig Glück, zu wenig Liebe und Freundschaft, zu wenig Poesie, Hoffnung, Solidarität, Phantasie und Bildung.

Doch bevor wir uns dem Ganzen zuwenden, möchte ich zunächst noch einmal auf den Anfang unserer Überlegungen zurückkommen. Auf die vielen Menschen, die scheinbar „überflüssig“ sind und das Leid, das hieraus entsteht. Denn hieraus entsteht großes Leid.

Leid entsteht zunächst für die Überflüssigen selber. Sie stehen in der Welt und haben viel zu geben, das niemand haben möchte. Sie haben Gedanken, für die niemand Verwendung hat. Sie haben Hände, die niemand braucht und die keine Gelegenheiten erhalten ihren Beitrag zum Glück der Welt zu leisten. Sie haben körperliche, seelische und geistige Kräfte, Energie, Phantasie und Gestaltungswünsche, die nicht ins Leben kommen dürfen, die nirgendwo gelebt werden. Ihre Wünsche und Hoffnungen sind ort- und zeitlos. Wohin mit dem Wunsch gesehen und respektiert zu werden? Ihr Wunsch etwas zu leisten, auf das sie stolz sein können läuft ins Leere. Wie ist es möglich unter diesen Umständen seine Würde zu bewahren, vor sich selber und vor der Welt? Wer zollt ihnen Respekt und welche Hoffnung bleibt für die Zukunft?

Sie sind wie die Bäume, die nicht wachsen dürfen. Sie sind wie die Bäume, deren Früchte verfaulen noch ehe sie reif sind. Sie sind wie die Bäume, deren Früchte zu Boden fallen und verfaulen.

Was, so frage ich mich, ist schlecht an jungen Männern, die nicht wissen wohin mit ihrer Energie und Kraft? Sie sind das, was junge Männer schon immer waren. Und wir sperren sie in kleine Klassenräume ein oder in kleine Wohnungen. Sie leben in Wohnanlagen die ganz sicher nicht „artgerecht“ sind. In Staddteilen, die schon immer nur der „Arbeitslosenintensivhaltung“ dienten und in denen es nichts Schönes gibt, nichts Würdevolles, nichts was den dort lebenden Menschen und ihren unsterblichen Seelen Respekt erweist?

Was wird aus kleinen Jungen, die Tag aus und Tag ein sehen müssen, wir ihr Vater den sie lieben müssen, auf den sie stolz sind, gedemütigt wird. Väter die klein gemacht werden und ihrer Würde beraubt werden, weil sie das, was von ihnen erwartet wird nicht leisten dürfen: die Familie zu ernähren. Der Familie ein Leben in Würde ermöglichen. Ihren Kindern, die sie leben, eine Teilhabe am guten Leben zu erarbeiten. Den Kindern alle Chancen zu eröffnen. Die eigene Stärke und die eigene Kraft leben.

Was wird aus den kleinen Jungen, die auf den Straßen hinter ihren müden und traurigen Vätern einhergehen. Väter, deren Gesicht von Demütigungen und der Anstrengung des Lebens gezeichnet ist, die mit leeren und traurigen Augen voranschreiten. Denn es sind heute nicht die Frauen, die am offensichtlichsten diesen Trauerflor tragen. Es sind die Männer, die den größten Preis bezahlen.

Ist es angesichts dieser Verhältnisse ausreichend Einkommen umzuverteilen. Können wir Menschen, die wir alle in diese Lage gebracht haben ihren Schmerz abkaufen, mit Sozialhilfe? Mit Arbeitslosenhilfe? Mit Hartz IV-Geldern?

Was wissen wir darüber, was es bedeutet, wenn Menschen stets nur dauerhaft vom Rand her zuschauen dürfen? Wenn das Leben, oder das was man dafür hält, nur noch etwas ist, was im Fernsehen oder in der Werbewelt stattfindet. Wenn jeder Tag zu Demütigung wird und das Gefühl nicht zu genügen die Nacht vergiftet. Wenn die Angst vor dem nächsten Tag, vor dem Briefträger, vor dem Gerichtsvollzieher, vor dem Chef jeden Lebensmut überschattet? Wenn nur noch der Alkohol kurze Zeit Erleichterung verschafft? Wenn die eigenen Probleme nur dann erträglich sind, wenn man sich darüber freuen kann, dass Andere schlechter dran sind? Wenn sich schließlich alles Leid in Gleichgültigkeit, Rohheit und Bosheit verwandelt. Eine Bosheit, die dazu führt, dass das Ich von einem Strudel abwärts verschlungen wird, aus dem es kein zurück mehr gibt. Aber den Tod.

Der Begriff „überflüssig“, der Ausgangspunkt unserer Überlegungen war liefert uns noch weitere Hinweise zum Verständnis der Verhältnisse. Überflüssig hat nicht nur mit Überfluss zu tun sondern auch mit „Fluß“ und „fließen“.

Dass wir inmitten des Überflusses zugleich wachsende Inseln des Mangels haben und die Welt geprägt ist von einer dramatischen Gleichzeitigkeit eines zuviel und zuwenig, dies hat in der Tat etwas mit einem Mangel an Fluss und fließen zu tun. Denn wären wir und die Verhältnisse mehr im Fluß, dann wäre viel und vielen geholfen.

Dies gilt vor allem für die beiden Bereiche Geld und Liebe.

1. Es ist schädlich sie zu horten. Denn wer sie hortet verliert.
2. Nur wenn sie fließen, können sie ihren Segen entfalten und wachsen und gedeihen.

Beim Geld ist es offensichtlich. Was nützen die Billionen Sparvermögen, die in unserem Land auf den Sparkonten liegen und damit dem Wirtschaftskreislauf entzogen sind? Wie können diese Vermögen wachsen, wenn immer weniger Geld zu Verfügung steht, für die lebendige Wirtschaft, die auf dieses Kapital angewiesen ist. Die davon lebt, „dass der Rubel rollt“. Die Wirtschaft und der Wohlstand eines Landes hängen davon ab, dass Geld fließt. Vom Kunden zum Dienstleister oder Händler, der es dann an den Zulieferer weitergibt, der davon seine Mitarbeiter bezahlt, die dann ihr Geld wieder zum Dienstleister und zum Händler tragen.. Welchen Sinn macht es, gerade den Menschen immer mehr Geld an die Hand zu geben, die dieses Geld nicht in den Wirtschaftskreislauf zurückgeben, damit es dort seine Wohltat vollbringen kann? Wäre es nicht klüger das Geld vor allem denen zu geben, die mit diesem Geld den Wirtschaftskreislauf nähren und die dieses Geld für Dinge ausgeben, die Arbeit und Einkommen bei uns schaffen und erhalten?

Tatsächlich ist es derzeit aber umgekehrt. Diejenigen, die Geld haben, tragen es auf die Bank oder geben es Fondsmanagern, die es vermehren sollen. Doch Geld vermehrt sich nur, wenn diejenigen, die das Geld erhalten (Unternehmen/Haushalte) Zinsen zahlen können. Zinsen kann jedoch nur der zahlen, der Geld verdient oder Gewinne macht. Damit Unternehmen Gewinne machen können, müssen sie Produkte zu einem angemessenen Preis verkaufen können. Sie brauchen also Kunden, die bereit sind für das Produkt oder die Leistung, die sie entgegennehmen einen gerechten Preis zu zahlen. Wird immer mehr Geld diesem Kreislauf entzogen, dann können keine Gewinne erwirtschaftet und keine Zinsen gezahlt werden.

Schlimmer noch ist es mit der Liebe. Wer mit der Liebe geizt, der trägt dazu bei, dass die Liebe in der Welt weniger wird. Nur Kinder die geliebt wurden sind in der Lage ihrerseits Liebe zu empfinden und später auch Liebe zu geben. Die Liebe ist wie ein niemals versiegender Brunnen, sie wird von Generation zu Generation weitergegeben. Und so lange dies geschieht, wird der Strom des Lebens nicht versiegen. Mit der Liebe ist es wie mit Geld: nur wenn sie fließt kann sie wachsen und gedeihen. Je mehr Liebe fließt, desto größer wird das Reservoir an Liebe (Liebe die wir geben können und Liebe, die uns entgegengebracht wird) aus dem wir schöpfen können.

Wir stellen fest: Mit der Liebe und mit dem Geld verhält es sich also ähnlich. Beide basieren auf dem Prinzip des Fließens. Nur wenn sie im Fluß sind, entfalten sie ihre Wohltaten.
Doch kommen wir noch einmal auf den Ausgangpunkt zurück. Wir haben festgestellt, dass das Leid des „überflüssig sein“ etwas mit dem zuviel und zu wenig zu hat, das heute viele Lebens- und Wirtschaftsbereiche prägt. Das zuviel und zu wenig wiederum ist auch Ergebnis der Tatsache, dass wir nicht genügend im Fluss sind und das nicht genügend Geld und Liebe fließt. Es sind die Menschen, die Geld horten und sind die Menschen die Liebe horten, die die Macht haben, hieran etwas zu ändern.

Nun denn, bleibt nur noch, frohe Ostern zu wünschen .....