April 09, 2010

Bill Brook

Hamburgs größtes Industriegebiet! Die erste Suche nach Billbrook verlief frustrierend. Kein Schild informiert den Besucher über die Grenzen des Stadtteils. Der Übergang vom Hamburger Centrum nach Hammerbrook, Rothenburgsort oder auf die Veddel, ist auch für Anlieger nahezu unsichtbar und dennoch rechtlich vorhanden.

Den Straßenatlas auf dem Nebensitz, fuhr ich endlos, malerisch an der Bille gelegen, an Kleingärten vorbei, durch Backsteinwüsten, Schrotthalden, Abfallberge, über alte Brücken, ruckelte ich über Schienen der 1907 erbauten Südstormarnschen Kreisbahn, auf breiten Straßen an Hallen, Zäunen und Containern vorbei und hatte es nicht bemerkt: Das Ziel hatte ich längst erreicht und unbemerkt durchschritten. Bill-brook.

Hamburg ist eine Stadt mit vielen Gesichtern. Jeder kennt die Alster, die Reeperbahn und St. Pauli. Manche kennen das feine Harvestehude, Uhlenhorst oder die Schanze. Aber wer kennt Billbrook? Wenn Mann oder Frau hier nicht arbeiten, gibt es faktisch keinen Grund diesen Stadtteil zu besuchen. Man kann mühelos in Hamburg geboren werden, sein Leben hier verbringen und sterben, ohne auch nur einmal von Billbrook gehört oder es besucht zu haben. Nicht einmal beim Sprung über die Elbe ist die Wahrscheinlichkeit groß hier zu landen.

Bill-brook muss man erwandern. Wer sich Zeit nimmt die endlosen Industriestraßen entlang zu schlendern, sich auf weitläufigen Gewerbeflächen zu verlieren und mit den dort lebenden und arbeitenden Menschen zu sprechen, wird den besonderen Charakter dieses Dorfes verstehen. Denn jenseits austauschbar gewordener, todsanierter Altbauten und fern der modischen Auswüchse moderner Architektur, deren Ortlosigkeit uns bis zur Erschöpfung langweilt, eröffnet uns dieser sperrige Stadtteil einen Blick hinter die Hochglanzbilder einer virtuellen Welt, deren Autoren die nicht weit entfernten luxussanierten Kontorhäuser bewohnen. Die uns Tag um Tag weismachen wollen, ihre manipulierten Bilder seien die Welt.

Und doch hat dieser Stadtteil etwas Liebenswertes und Besonderes. Billbrooks Charme erschließt sich dem Betrachter nicht vom Auto aus. Billbrook, das ist die Bronx von Hamburg. Hier stehen Weltfirmen und Hichtech-Schmieden neben Handwerksbetrieben, die uns vor lauter Nostalgie die Tränen in die Augen treiben. Hier leben Ausgestoßene und Erfolgreiche, Tür an Tür. Hier begegnen sich Blankeneser und Angestellte, Mitarbeiterinnen vom Straßenstrich bei Italiener Don A. am Tresen. Im Sommer ist der Asphalt hier so heiß wie in Atlanta und dampft und glitzert dass uns das Auge brennt.

Hier treffen wir Goldgräber aus Europas östlichsten Gefilden, denen geschäftstüchtige Afrikaner Othmarschener Sperrmüll verkaufen, der dann in stinkenden, altersschwachen Lkw der nächsten Nachnutzungsstufe zugeführt werden und im Konsumnirwana ferner Welten verdampfen. Und es gibt die echten Goldgräber, die sich im Herzen Billbrooks nostalgische Denkmäler setzen, weil sie fest an die Zukunft glauben.

Abfallberge und Kunstsinn gehen hier Hand in Hand. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Wer nicht weiß, was Nutzungskaskaden bedeuten oder Kreislaufwirtschaft, dem sei ein Spaziergang durch Billbrook gegönnt. Keine Wertschöpfungsstufe, die hier nicht ihren Platz hat. Rohstoffe werden angeliefert, Chemische Produkte hergestellt, Stahl und Metall bearbeitet, Baustoffe, Energieträger und Kohle befördert, Energie erzeugt, Nahrungsmittel und Elektroschrott gelagert und weiterverarbeitet. Dazwischen stehen Kleingärten, Behelfsheim und Container als Wohnraum für Gestrauchelte.

Was einst der Schlund von Paris war, das sind heute die endlosen Lagerhallen Billbrooks. Hier lagern Lebensmittel für Hamburg und die Region. Hier wird die nicht enden wollende Elektronikschwemme zwischengelagert und umgepackt, um drei Jahre später wieder - ob legal oder illegal – darüber mag man spekulieren auf dem Nachbargrundstück weiterverwendet zu werden.

Unternehmer haben Billbrook groß gemacht und Unternehmer werden auch in Zukunft diesen Stadtteil prägen. Große Namen wie J.J. Darboven, Still und Vattenfall, Hidden Champions wie B&Q Dachbau, Fresh Factory oder Mike´s Sandwich, Speditionen und Logistiker, Dienstleister für die Eventbranche. Der Hamburger Kaufmann ist hier in Billbrook nicht ganz so fein, wie der in Blankenese. Muss er auch nicht. Dafür ist er aber auch nicht ganz so unnahbar und hat Gemeinschaftssinn.


Literatur: Staats- und Universität Bibliothek Hamburg; Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk - Die Hundblume 1947; Bill Brook BOR:Aa3: 1-11, unvollständiges handschriftliches Fragment


pic: (c) Billbrookkreis e.V.